„Der Rattenfänger von Hameln“ – integratives Theaterprojekt

Integratives Theaterprojekt zwischen dem Gymnasium Alexandrinum Coburg und der Von-Lerchenfeld-Schule für gehörlose Schülerinnen und Schüler in Bamberg

„Es geht um Begegnungen.“, so Tobias Pohl, Initiator des integrativen Theaterprojekts: „Es geht darum, Begegnungen zu schaffen zwischen Schülergruppen, die sich im Schulalltag selten bis nie über den Weg laufen.“ Begegnungen schaffen durch das gemeinsame Projekt, über die gemeinsame Arbeit am Theater einander sehen und einander verstehen. Die Formel klingt recht einfach … Es geht um das Verstehen von Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung, es geht um den Nachvollzug der Wünsche, der Hoffnungen und Ängste jener Menschen, die im normalen Alltag allzu oft nicht gesehen, nicht wahrgenommen werden. „Unsere Gesellschaft kennt nur das Normale, das Angepasste.“, so Pohl: „Brechen Menschen aus diesem Raster aus, werden sie erst einmal als das Nichtnormale kategorisiert, als das, was nicht den strengen Kriterien der streng normierten Gesellschaft entspricht.“ Dabei verkenne man aber, dass das Normale schnell ausschließe, was eigentlich nicht ausgeschlossen werden dürfe, so der Theatermacher weiter. Es gehe darum, das Vielfältige zu sehen, es anzuerkennen, zu verstehen, dass man vom anderen etwas lernen könne, etwas zu lernen vermöge, so man sich auf das andere einlasse, so der Projektleiter.

Projektförderung und Stimmen der Künstler*innen

Genau aus dem Grund, weil es Türen öffnet zwischen Mauern, die durch das besondere Schulsystem in Bayern so oft verschlossen sind, genau aus dem Grund, weil das Projekt Perspektivwechsel ermöglicht, weil es dadurch Respekt und Toleranz vermittelt, ist dieses integrative Theaterprojekt durch vielfältige Institutionen unterstützt worden. So ist das Theaterprojekt durch „Demokratie leben!“ gefördert worden, ebenso durch die Stadt Coburg; daneben hat auch die Sparkasse Coburg-Lichtenfels sowie die Volks- und Raiffeisenbank Coburg dem Projekt finanziell unter die Arme gegriffen; zudem haben die Niederfüllbacher– sowie die Brandnick-Stiftung sehr gern ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit signalisiert und das Projekt gefördert; schließlich hat die Firma „Hörgeräte Geuther“ ebenso das Projekt unterstützt.

Nun, nach anderthalb Jahren harter Arbeit in Bamberg und in Coburg neigt sich das herausfordernde Theaterprojekt endlich seinem ersten, seinem vorläufigen Ende: Am 29.11.2023 um 19:00 Uhr wird das Theaterstück „Der Rattenfänger von Hameln“ am Gymnasium Alexandrinum in Coburg gegeben, am 30.11.2023 dann an der Von-Lerchenfeld-Schule in Bamberg.

Es sind große Erwartungen gewesen, welche die jungen Schauspieler*innen gehabt haben, als sie sich mit Beginn des letzten Schuljahres an dieses vollkommen neuartige Projekt gewagt haben. „Es ist nicht nur der Reiz des Theaters gewesen.“, so eine Schüler*in im Rückblick an den Beginn des integrativen Theaterprojekts: „Es ist das mit dem Theaterprojekt verbundene große Unbekannte gewesen, etwas, was neugierig gemacht, was irgendwie fasziniert hat.“ Mit dem Projekt ist Neuland betreten worden: Es ist nicht nur darum gegangen, die Entfernung sinnvoll zu überbrücken, es ist vor allem darum gegangen, die unterschiedlichen Wahrnehmungen zu bemerken, diese einander zu erklären, zu verstehen, dass die Versprachlichung dessen, was wir Welt nennen, bei den einen so abläuft, bei den anderen so. „Ich war überrascht, dass die Gebärdensprache nicht nur eine Ersatzsprache darstellt. Sie hat Charakter, sie hat Charme …“, so eine Schüler*in, als sie sich daran erinnert, wie sie wenige Gesten der Gebärdensprache hat lernen sollen, um ihrer Rolle Authentizität und Tiefgang zu verleihen. „Im Zuge der Zusammen- und der Probenarbeit habe ich begriffen, dass die Gebärdensprache eine eigene Sprache darstellt, eine eigene Kultur hat, die Welt anders verarbeitet, weil sie diese anders versprachlicht, weil sie diese anders sieht.“, so Tobias Pohl, während die Lehrkräfte der Von-Lerchenfeld-Schule lächeln. „Er hat verstanden, dass diejenigen, die gehörlos sind, nicht einfach nur gestikulieren.“, so Uwe Lehmann, eine Lehrkraft der Von-Lerchenfeld-Schule, welche an diesem Projekt beteiligt ist. „Es war ein Prozess, bis Tobias verstanden hat, dass seine Sprache nicht immer unserer Sprache entspricht, dass seine sprachliche Verarbeitung nicht immer dem Ausdruck der Gebärde entspricht.“, ergänzt Insea Hans, ebenso Lehrkraft an der Von-Lerchenfeld-Schule.

Aus diesem Grund hat Tobias Pohl zu Beginn des Projekts Überzeugungsarbeit leisten müssen, ist das Stück mehrmals umgearbeitet worden. Es gehe darum, dass das Stück die Welt eines Gehörlosen abbilde, dessen Welt darstelle; folglich müsse man bestimmte Redewendungen, die man in der Welt der angeblich Normalen beiläufig verwendet, ändern.

Es ist eine Geschichte über einen Helden geworden, der in der normalkatalogisierten Welt eigentlich kein Held sein kann; er verfügt nicht über die klassischen Heldenmerkmale, er besitzt nicht übernatürliche Kräfte, er ist zu still. Der Held dieses Theaterprojekts ist Natan, ein gehörloses Kind, welches durch einen abscheulichen Gewaltakt in eine Situation gedrängt wird, sich fragen zu müssen, ob er zum Helden werden will oder aber nicht: Die Kinder seines Dorfes werden durch den Rattenfänger entführt, die Dorfbewohner, nachdem sie den Raub festgestellt haben und gleichzeitig bemerken, dass Natan noch anwesend ist, greifen gewaltsam nach ihm, seinen Eltern – töten schließlich seine Eltern … Und Natan?

„Meine Mutter sagte mir immer, dass es nur darum gehen könne, dass das, was getan werden muss, auch getan wird! Ich habe diese sonderbare Heldenhaftigkeit nie verstanden. Ich will kein Held sein!“, gibt Natan zu. Ein Einblick in sein Gemüt, ein Ausdruck seiner Überforderung. Wer kann es diesem Kind verübeln? Ein Wegschieben seiner möglichen Verantwortung.

Natan macht sich, wider Willen, auf den Weg: Er irrt durch die Phantasiewelt und lernt sich selbst kennen – seine Fähigkeiten, seine Fertigkeiten. Er bemerkt, dass seine Gehörlosigkeit ihn schützt vor der musikalischen Magie des Rattenfängers, er versteht, dass seine Gebärdensprache eine Waffe gegen den Rattenfänger darstellen … Alles, was er nun noch begreifen muss, ist, dass er Mut aufbringen muss, Mut, den Weg zu gehen, den er bereits unbeholfen eingeschlagen hat.

Begleiten Sie Natan in den Vorstellungen, sehen Sie ihm zu, wie er etwas unbeholfen, etwas tapsig, zusehends aber mutig in seine Heldenrolle hineinwächst, bis er sich entschlossen genug dem Rattenfänger entgegenzustellen wagt …