„Versprochenes Reich“
Besuch der Theatervorstellung und anschließendes Gespräch mit Mitwirkenden durch Schülerinnen und Schüler der Klasse 9c
Es ist der Traum eines jeden jungen, heranwachsenden Menschen, seine Schule zu verlassen, infolgedessen die engen Grenzen seines jugendlichen Alltags aufzubrechen und diese hinter sich zu lassen, in die große weite Welt hinein zu gehen und sich darin, vollkommen frei und ungezwungen, zu entfalten.
Das Gefühl absoluter Freiheit! Als ob da niemand ist, der den jungfräulichen Lebensfreigeistern Grenzen setzen kann: Niemand, der ihnen sagt, dass sie das nicht tun dürften, niemand, der ihnen vorgibt, dass sie etwas zu erledigen hätten … Als ob die absolute Freiheit derart berauscht, dass die enthusiastischen Höhenflieger daran glauben, sie könnten der Welt ihren Stempel aufdrücken, sie könnten der Welt sagen, wer sie sind … Ganz im Sinne der fatalen Annahme zu meinen, die Welt hätte auf sie gewartet. Ganz im Sinne eines logischen Fehlers, davon auszugehen, die Welt hätte nicht nur auf sie gewartet, sie hätte sie vielmehr erwartet, gleich einer Prophezeiung, einer Ankündigung …
Ein Gefühl der trügerischen Sicherheit, welches spätestens dann in sich zusammenfallen muss, wenn die gefühlten Senkrechtstarter das erste Mal schmerzhaft auf dem Boden aufprallen. Wenn sie merken, dass man nicht auf den Füßen landen muss – und dass die Welt nicht auf sie gewartet, sie schon gar nicht erwartet hat.
Das Theaterstück „Versprochenes Reich“, das durch Schülerinnen und Schüler der Klasse 9c besucht wurde, spielt genau mit dieser Diskrepanz zwischen jugendlicher Hoffnung und fataler Realität. Drei junge Erwachsene bewerben sich auf eine Stelle. Drei junge Erwachsene hoffen darauf – auch aufgrund der Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sie mitbringen, aufgrund der Ausbildung, die sie haben, aufgrund der Begabung, von der sie meinen, dass diese sie für diese Aufgabe prädestiniere –, einen Job zu erhalten, von dem sie erwarten, dass dieser mehr ist als ein Job, eher eine Berufung, eine Heirat mit der Zukunft; darauf vertrauend, dass diese Zukunft endlich dann einbringe, was sie ihnen im einstmals rauschenden Geschmackserlebnis der Loslösung von Schule und Elternhaus versprochen hat. Infolgedessen fragen die drei Bewerber nicht danach, welchen Sinn einzelne Vorstellungs- und Bewerbungsrunden haben; sie durchlaufen sie einfach, sie lassen es mit sich machen und über sich ergehen, sie fragen nicht danach, warum sie sich diesem Diktum einer fatalistisch daherkommenden digitalen Chefin unterwerfen. Sie tun einfach!
Im Laufe des Stücks fragen sich die Darsteller wie die Zuschauer, was über geblieben ist von dem Traum auf ein sehr gutes Leben, was übriggeblieben ist von dem Traum, die eigene Biografie, gleich einem Stempel der Welt aufdrücken zu wollen, was überhaupt davon übriggeblieben ist, was man einstmals wollte, wofür man sich interessierte, wonach man strebte. Der Traum vom versprochenen Reich verfliegt zunehmend, sowie die Darsteller auf der Bühne einsehen müssen, dass sie austauschbar sind, dass die eigenen Begabungen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, die eigenen Überzeugungen nichts sind im perfiden Spiel einer übermächtigen möglichen Chefin, die dazu anhält, die vollkommen unmenschlichen Prüfungen mit jedem weiteren Schritt, jeder weiteren Anweisung zu pervertieren. Um am Ende den Gedemütigten zu sagen, dass keiner genommen werden könne, keiner gut genug sei, keiner!
Der Traum vom versprochenen Reich verfliegt augenblicklich.
Das Stück, das in der alten Kühlhalle inszeniert wurde, wirft die Frage auf, was wir sein wollen, was wir in Wirklichkeit aber sind, an wen wir uns anpassen müssen … Es wirft die Frage danach auf, ob die jugendlichen Träume, die eine utopische Welt von morgen träumen, in der alles möglich ist, ob diese Träume selbst nicht sogar gefährlich sind, weil sie dem Träumer vorgaukeln, er könne die Welt verändern, so er sich nur anstrenge, so er in die Welt eintauche, sich in ihr engagiere … Es ist ein Stück, das danach fragt, wer wir sind in einer Gesellschaft von vielen, wer wir sein dürfen in einer Gesellschaft von vielen und ob unser Seindürfen überhaupt möglich ist.
Der Traum vom versprochenen Reich verfliegt, sowie der Träumer anerkennen muss, dass die Realität eine andere ist.
Es ist die bittere Erkenntnis des Abends, dass man trotz aller Bemühungen stets darum bemüht sein muss, sich an die Etikette des scheinbar Normalen anzupassen, wohl wissend darum, dass man sich gegen diese Etikette entscheiden kann, jedoch darum ahnend, dass eine Entscheidung gegen diese Etikette durchaus den Geschmack von Freiheit trägt … Aber dann erkennen diejenigen, die sich gegen diese Etikette entschieden haben, dass ihre Entscheidung auch nur Etikette ist.
Es ist der Traum von einem versprochenen Reich! Es bleibt der Traum von einem versprochenen Reich.
Tobias Pohl