„Diese Zeit hat etwas durchaus Gespensterhaftes. […] Was man so gemeinhin Kunst und Kultur nennt: sie sind nicht möglich ohne gemeinsame Voraussetzungen. Die sind nicht mehr da. Die Grundfesten wanken.“ (Kurt Tucholsky, Dämmerung)
Freitagmittag, Aula des Gymnasium Alexandrinum: „Was jetzt kommt, weiß niemand…“
Unter diesem Titel liest der Landestheater-Schauspieler Frederik Leberle Texte aus Kurt Tucholskys Werk. Begleitet wird er dabei von der Historikerin Franziska Bartl, die die Lesung mit historischen Hintergründen zu Geschichte, Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik bereichert. Die Schülerinnen und Schüler der Q12 lauschen gespannt, während der avantgardistische Berliner Künstler, der mit scharfer Feder gegen die Unsitten seiner Zeit, die rückwärtsgewandte Gesellschaft, den Militarismus, die nationalkonservativen Monarchisten und ultimativ auch den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus anschrieb, eine neue, warnende Stimme bekommt. Als linker Demokrat und Pazifist mahnte er frühzeitig den Humanismus an und warnte vor dem Erstarken der politischen Rechten, insbesondere vor den immer stärker werdenden Nationalsozialisten. Sein Werk fiel wie das vieler anderer Autoren im Mai 1933 (in Coburg bereits im März 1933) der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten zum Opfer.
Der Schauspieler Leberle lieh seine mal eindringliche, mal sanfte Stimme dem Pazifisten, dem Propheten, dem Satiriker, aber auch dem Humoristen Tucholsky. So wurde sein Werk für die aufmerksamen Zuhörer lebendig und die Parallelen einer Zeit großer gesellschaftlicher Veränderungen und Ungewissheiten zur Gegenwart wurden greifbar.
Den Schülerinnen und Schülern wurde bald bewusst, dass seine Gesellschaftskritik und seine Warnungen heute so aktuell sind wie sie zu seinen Lebzeiten waren, wenn er unter seinem Pseudonym Theobald Tiger schon 1930 in „Deutschland erwache“ schrieb:
Sie wollen den Bürgerkrieg entfachen –
(das sollten die Kommunisten mal machen!),
dass der Nazi dir einen Totenkranz flicht -:
Deutschland, siehst du das nicht – ?
Doch die Schülerinnen und Schüler lernten Tucholsky nicht nur als politischen Autor kennen, sondern das Programm, zusammengestellt von Friederike Beck-Meinke von der Experimentierplattform „Making Culture“, bot einen spannenden Querschnitt durch die verschiedensten Facetten seines Schaffens.
Und so bleibt als Fazit eines unterhaltsamen, kurzweiligen und vor allem eindringlichen Nachmittags, der unbedingt zum Nachdenken anregte, dass zwar niemand weiß, was kommt, es in unsicheren Zeiten aber stets klarer Worte bedarf, um sich gegen Ungerechtigkeit, Ausgrenzung und Extremismus zu positionieren. Denn um erneut Kurt Tucholskys „Dämmerung“ zu bemühen:
„Es dämmert, und wir wissen nicht, was das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung.“